Atomkriegsrisiko und Russland-Ukraine-Krieg

HSU

21. März 2022

Wir veröffentlichen an dieser Stelle aus aktuellem Anlass Debattenbeiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unserer Universität, die ihre fachliche Expertise zum aktuellen Geschehen beitragen wollen. Die Auffassungen der Autoren sind ihre eigenen und geben nicht die Meinung der Universitätsleitung, der Bundeswehr oder der Bundesregierung wieder.

von Michael Staack, Karl Hans Bläsius und Reiner Schwalb[1]

Die Spannungen zwischen Russland und der Nato in Zusammenhang mit der Ukraine haben in den letzten Monaten immer weiter zugenommen und führten am 24.02.2022 zum Beginn militärischer Angriffe auf die Ukraine durch Russland. Völkerrechtlich handelt es sich zweifelsfrei um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Inzwischen herrscht Krieg in der gesamten Ukraine. In einer solchen Situation stellt sich auch die Frage, inwieweit das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen besteht, eventuell auch aus Versehen.

1. Nukleare Abschreckung

Aufgrund der verheerenden Auswirkungen eines Einsatzes von Atomwaffen schreckt der Besitz solcher Waffen potenzielle Gegner ab. Zwischen den großen Atommächten besteht eine Zweitschlagfähigkeit: Wer ange­griffen wird, kann den Einschlag von Atomwaffen abwarten und hat danach immer noch genug Zeit und Potenzial, einen vernichtenden Gegenschlag auszuführen. Im Schlagwort: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“. Dieses Prinzip der nuklearen Abschreckung kann auch Kriege verhindern. Da die Ukraine keine Atomwaffen besitzt, hat dieser Aspekt in der aktuellen Situation keine Rolle gespielt.

2. Bewusster Angriff mit Atomwaffen

Die Auswirkungen eines Atomkriegs sind für alle Seiten so gravierend, dass auch in Krisen- und Kriegszeiten eine große Hemmschwelle für den Einsatz von Atomwaffen bestehen wird.

Mit der Entwicklung weiterer kleiner Atomwaffen könnte sich diese Situation ändern, die Hemmschwelle sinken. Es kann auch andere Szenarien geben, die zu einem bewussten Einsatz von Atomwaffen führen könnten. Beispielsweise besteht die Gefahr, dass eine Atommacht, die in existenzielle Not gerät, den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung zieht. Die Strategiepapiere Russlands sehen den Einsatz von Nuklearwaffen dann vor, wenn die Existenz der Russischen Föderation auf dem Spiel steht. Dabei ist es irrelevant, ob dieser Zustand militärisch oder wirtschaftlich herbeigeführt wird. Wenn Sanktionen gegen eine Atommacht so schwerwiegend sind, dass eine existenzielle Notlage entsteht, könnte dies das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen erhöhen. Ähnliches gilt für schwerwiegende Cyberangriffe auf ein Land. Die Frage ist, wann ist eine solche Grenze erreicht? Das Spektrum eines möglichen Schadenspotenzials erstreckt sich kontinuierlich von „gering“ bis „riesig“ bzw. „total“. Für das Setzen einer Schwelle für einen nuklearen Angriff gibt es großen Ermessensspielraum innerhalb dieses kontinuierlichen Spektrums. Zu Beginn der Angriffe auf die Ukraine am 24.2.2022 hat der russische Präsident erklärt: „Jetzt ein paar wichtige, sehr wichtige Worte für diejenigen, bei denen die Versuchung aufkommen könnte, sich von der Seite in das Geschehen einzumischen. Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben. Wir sind auf jede Entwicklung der Ereignisse vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen wurden in dieser Hinsicht getroffen. Ich hoffe, dass ich gehört werde.“[2] Diese Drohung wird als Drohung mit Atomwaffen interpretiert.[3]

Auch eine drohende Niederlage einer Atommacht in einer konventionellen Auseinandersetzung könnte zum Einsatz von Nuklearwaffen führen.

Am 27.2.2022 hat Russland seine „Abschreckungskräfte“ in Alarmbereitschaft versetzt, dazu gehören auch Atomwaffen.[4] Zwar war dies auch 2014 bei der Annexion der Krim geschehen, aber dieses Mal ist die Situation deutlich gefährlicher. Dies auch, wegen bereits ausgesprochener und auch möglicher weiterer Sanktionen. Wenn eine solche Maßnahme wie die Alarmbereitschaft einmal gutging, muss das nicht immer so sein. Das gilt auch für andere Bereiche. Wenn beispielsweise ein riskantes Manöver im Straßenverkehr gut gegangen ist, bedeutet das nicht, dass solche Manöver immer gut gehen. Im Gegenteil: die Risikobereitschaft kann sich erhöhen, bis es zu einem schwerwiegenden Unfall kommt.

3. Risiko Atomkrieg aus Versehen in Krisen- oder Kriegszeiten

Frühwarnsysteme für nukleare Bedrohungen basieren auf Sensoren und sehr komplexen Computer-Netzwerken und dienen dazu, Angriffe mit Atomwaffen so früh zu erkennen, dass ein Gegenschlag ausgelöst werden kann (bezeichnet als „Launch on Warning“), bevor die angreifenden Atomraketen einschlagen und eine Gegenreaktion erschweren oder verhindern.

In Frühwarnsystemen kann es aber zu Fehlalarmen kommen, d.h. es wird ein Angriff mit Atomwaffen gemeldet, obwohl keine Bedrohung vorliegt. Solche Alarmmeldungen sind dann besonders gefährlich, wenn politische Krisensituationen vorliegen, eventuell mit gegenseitigen Drohungen oder wenn in zeitlichem Zusammenhang mit einem Fehlalarm weitere Ereignisse eintreten, die zur Alarmmeldung in Zusammenhang gesetzt werden könnten. In der Vergangenheit gab es einige Situationen, in denen es nur durch großes Glück nicht zu einem Atomkrieg aus Versehen kam.

Auch in der aktuellen Situation in der Ukraine besteht noch die Hoffnung, dass ein Fehlalarm in einem Frühwarnsystem als solcher interpretiert wird, ohne dass eine nukleare Gegenreaktion erfolgt. Sehr kritisch sind solche Fehlalarme, wenn aufgrund entsprechender Drohungen oder sonstiger Erkenntnisse mit einem nuklearen Angriff des Gegners gerechnet wird bzw. ein solcher Angriff als plausibel gilt. Dann besteht die Gefahr, dass die Bewertungsmannschaft von einem tatsächlichen Angriff ausgeht und eine Entscheidung für eine Gegenreaktion treffen muss.

In Abschnitt 2 ist beschrieben, dass eine Atommacht in existenzieller Not auch den Einsatz von Atomwaffen erwägen könnte. Angenommen es kommt in dieser Situation zu einem Fehlalarm mit einer nuklearen Angriffsmeldung: Wird der scheinbar angegriffene Staat dann auch abwarten und auf die Zweitschlagfähigkeit vertrauen oder eher einen sofortigen nuklearen Gegenschlag beschließen?

Bei bestehender Zweitschlagfähigkeit könnte sicherheitshalber zunächst von einer unmittelbaren Gegenreaktion („Launch on warning“) abgesehen werden, was derzeit anerkannten Grundsätzen und der Erwartung entsprechen würde. Eine solche Entscheidung hängt aber von dem jeweiligen Staatschef ab. In Kriegszeiten und sehr angespannten Situationen wie derzeit kann nicht gewährleistet werden, dass solche Grundsätze immer eingehalten werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Staatschef sich zu einem „Launch on warning“ entschließt. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, wobei mehrere dieser Aspekte zutreffen können:

  • Ein direkter Gegenschlag ist sehr viel leichter realisierbar und wirksamer als ein Zweitschlag, nachdem man getroffen wurde.
  • Wenn ohnehin ein solcher Angriff erwartet wird, überwiegt die Annahme, dass die Meldung echt ist.
  • Die eigene Nation ist so sehr in Bedrängnis und existentieller Not, dass ein atomarer Angriff ohnehin in Erwägung gezogen wurde.
  • Der Staatchef möchte eine Gegenreaktion noch selbst auslösen und sich nicht darauf verlassen, dass andere nach einem Erstschlag für einen Zweitschlag sorgen. Er selbst wird ja nach einem Einschlag möglicherweise dazu nicht mehr in der Lage sein.

4. Cyberkrieg

Auf die Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland könnten als Gegenreaktion schwerwiegende Cyberangriffe folgen. Zuletzt wurden Konflikte zwischen Staaten immer häufiger von Cyberangriffen begleitet. Deshalb ist auch jetzt mit schweren Cyberangriffen zu rechnen, die zu einem Cyberkrieg zwischen Nato-Staaten und Russland eskalieren könnten. Schwerwiegende Cyberangriffe müssen nicht von Staaten ausgehen, auch Hackergruppen oder Einzelne könnten hierfür verantwortlich sein. Dies ist in der Regel aber nicht feststellbar, deshalb werden Verantwortlichkeiten vermutlich auf die am jetzigen Konflikt beteiligten Staaten zurückfallen. Damit besteht die große Gefahr, dass der aktuelle Krieg in der Ukraine sich zumindest im Cyberraum auf die Nato und Russland ausweitet. Als Folge werden Fehler in Frühwarnsystemen für nuklearen Bedrohungen gefährlicher und können sehr leicht zu einem Atomkrieg aus Versehen führen.

5. Risiko Atomkrieg aus Versehen bei kriegerischem Konflikt zwischen Atommächten

Besonders gefährlich kann es werden, wenn die aktuelle Situation in der Ukraine weiter eskaliert und auch die Nato in kriegerische Aktionen einbezogen wird. Dann kann es auch leicht zu nuklearen Auseinandersetzungen kommen. Vor diesem Risiko warnen auch militärische Experten.[5]

Bei einer drohenden Niederlage in einem konventionellen Krieg zwischen Atommächten könnte die unterlegene Seite den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung ziehen. Des Weiteren wird jeder Fehlalarm in einem Frühwarnsystem für nukleare Bedrohungen in solchen Situationen extrem gefährlich. Wenn ohnehin schon kriegerische Auseinandersetzungen laufen, dann könnte eine Alarmmeldung in Bezug auf Atomwaffen auch sehr leicht aus plausibel eingeschätzt werden und den aktuellen Erwartungen entsprechen. Dann wäre es auch wirkungsvoller, eine Gegenreaktion einzuleiten, bevor die gegnerischen Atomwaffen einschlagen und eine Gegenreaktion erschweren. Kriegerische Konflikte zwischen Atommächten werden von Cyberangriffen begleitet sein, auch diese erhöhen das Risiko von Fehlinterpretationen bei Fehlalarmen in Frühwarnsystemen.

Was ist zu tun?

Das Gebot der Stunde ist Deeskalation. Weitere Eskalationen und militärische Konflikte zwischen Atommächten müssen mit allen Mitteln verhindert werden. Dazu ist eine Verstärkung der Krisenkommunikation insbesondere zwischen den militärischen Führungen Russlands und der USA erforderlich. Das setzt die Zustimmung der Staatschefs voraus. In der kritischen Phase des Übergangs von der Trump- zur Biden-Administration hat der US-amerikanische Generalstabschef Mark Milley die Optionen der Krisenkommunikation mit seinem Kollegen in China voll genutzt und dadurch die Gefahr eines Nuklearkonflikts aus Versehen gebannt. Ein solches verantwortungsbewusstes Verhalten ist auch heute zwingend erforderlich. Atomkriege sind nicht gewinnbar, eine Vernichtung des europäischen Kriegsschauplatzes mit globalen Wirkungen wäre aber unausweichlich.


Fußnoten

[1] Univ.-Prof. Dr. Michael Staack lehrt Internationale Beziehungen und ist Präses des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit (WIFIS). Prof. Dr. Karl-Hans Bläsius lehrte Informatik an der Hochschule Trier und arbeitete zudem in der freien Wirtschaft. Brigadegeneral a. D. Reiner Schwalb war deutscher Verteidigungsattaché in Moskau und ist Vizepräsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP). Alle drei engagieren sich in der von Professor Bläsius gegründeten Initiative „Atomkrieg aus Versehen“.

[2] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/putin-rede-angriff-ukraine-101.html

[3] https://www.icanw.org/ican_condemns_russia_invasion_of_ukraine_an_escalation_risking_nuclear_war  und  https://www.icanw.de/action/ican-verurteilt-russische-invasion-in-die-ukraine/

[4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/putin-atomstreitkraefte-101.html

[5] https://www.n-tv.de/politik/Ex-Oberst-warnt-vor-Eskalation-mit-dem-Westen-article23151797.html