PÄDAGOGIK, SEXUALITÄT UND KÖRPERPOLITIKDISKURSE, PRAXEN, ERFAHRUNGSRÄUME 1870-1930

HSU

2. Juni 2025

dienstags 18:15 – 19:45 Uhr, Von-Melle-Park 8, Raum 05

22.04.2025

„Möglichkeitsräume“. Zur sexuellen Sozialisation bürgerlicher Mädchen und junger Frauen im späten Kaiserreich

Prof. Dr. Carola Groppe, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Vortragsbericht zur Ringvorlesung: „Möglichkeitsräume“. Zur sexuellen Sozialisation bürgerlicher Mädchen und junger Frauen im späten Kaiserreich (1870–1930)

Im Rahmen der Ringvorlesung zur historischen Perspektive auf Sexualität als Erfahrungsraum und Normengefüge für Jugendliche und junge Erwachsene widmete sich der Vortrag dem Thema „Möglichkeitsräume – zur sexuellen Sozialisation bürgerlicher Mädchen und Frauen im späten Kaiserreich“. Im Zentrum stand die Frage, welche Handlungsspielräume sich jungen Frauen in einer Zeit boten, die von normativer Sexualmoral, patriarchalen Strukturen und gesellschaftlicher Doppelmoral geprägt war. Der Vortrag von Prof. Dr. Groppe nahm dabei eine interdisziplinäre Perspektive ein, die geschlechtergeschichtliche, sozialhistorische und erziehungswissenschaftliche Ansätze verknüpfte. Besonders fokussiert wurde die Verschränkung von Pädagogik, Sexualitätsdiskursen und Körperpolitik im Zeitraum von circa 1870 bis 1930.

Zunächst wurde die Epoche des späten Kaiserreichs als ambivalente Übergangszeit charakterisiert: Einerseits herrschte ein rigides moralisches Normensystem, das insbesondere weibliche Sexualität auf die Sphäre der Ehe beschränkte. Andererseits lässt sich bereits in dieser Zeit eine gewisse Pluralisierung der Erfahrungsräume und sexuellen Handlungsmöglichkeiten feststellen – ein Spannungsverhältnis, das in der Vortragsperspektive als „Möglichkeitsraum“ gefasst wurde. Eine zentrale These des Vortrags lautete, dass die gesellschaftlich postulierte Keuschheit bürgerlicher Mädchen zunehmend in Konflikt mit tatsächlichen Erfahrungen und Bedürfnissen stand.

Die Referentin verwies darauf, dass gesetzliche Bestimmungen – etwa §176 StGB, der sexuellen Missbrauch Minderjähriger regelte – sexuelle Erfahrungen außerhalb der Ehe nicht nur normativ begrenzten, sondern auch rechtlich kriminalisierten. Dennoch zeigen zeitgenössische Quellen, dass junge Menschen, darunter auch Mädchen im Jugendalter sexuelle Kontakte pflegten. Eine wichtige empirische Grundlage stellte dabei die Studie von Ernst Meirowsky „Geschlechtsleben der Jugend, Schule und Elternhaus“ (1913) dar, die auf Interviews mit Jugendlichen basierte und aufzeigte, dass insbesondere in Städten eine größere Wahrscheinlichkeit sexueller Erfahrungen bestand als in ländlichen Regionen. Beispiele für solche Interaktionen seien etwa gemischtgeschlechtliche Feiern oder intime Treffen im Wald.

Ein besonderer Schwerpunkt des Vortrags lag auf der Analyse von Tagebüchern und Briefen bürgerlicher Mädchen, wie etwa denen von Erika Wolters (geb. Schwartzkopff) oder der fiktiven Figur Mathilde, deren Aufzeichnungen exemplarisch für das Spannungsfeld zwischen sozialer Erwartung und persönlichem Begehren standen. Die Mädchen dieser sozialen Schicht galten als Trägerinnen von Tugenden wie Anspruchslosigkeit, Zurückhaltung und Häuslichkeit. Die Schule hatte in diesem Kontext vor allem die Aufgabe, sie auf eine Lebensweise als Ehefrau und Mutter vorzubereiten – eine Rolle, die weniger auf berufliche als auf kulturelle Kompetenzen und sittliche Erziehung ausgerichtet war.

Diese Form der Sozialisation zielte darauf ab, ein geschlechtsspezifisches Verhalten zu internalisieren, das auch in unbeobachteten Momenten konformes Handeln gewährleisten sollte. Die öffentliche Meinung, so wurde betont, verlangte eine nahezu perfekte Selbstkontrolle weiblicher Sexualität. In dieser Hinsicht stellte die Mode um die Jahrhundertwende ein interessantes Beispiel für körperpolitische Verschiebungen dar: Der Übergang vom Korsett zu freieren Kleidungsformen war nicht nur Ausdruck eines veränderten Körperbewusstseins, sondern auch ein Zeichen subtiler Selbstermächtigung.

Ein zentrales Argument des Vortrags war, dass Sexualität als sozial konstruiertes Erfahrungsfeld zu begreifen ist. Theoretisch stützte sich die Referentin auf Ulrich Bauer und Pierre Bourdieu: Bauer verstand Sozialisation als Interaktionsprozess, der Handlungswissen erzeugt; Bourdieu betonte den Möglichkeitsraum als Grundlage des Habitus. Diese Konzepte wurden auf die sexuelle Sozialisation bürgerlicher Mädchen angewendet. Besonders in Garnisonsstädten, so die Referentin, entstanden bedingt durch viele unverheiratete Männer vermehrt außereheliche Kontakte. Dies machte diese Städte zu ‚Hotspots‘ sexueller Begegnungen und verweist auf konkrete Möglichkeitsräume weiblicher Sexualität innerhalb gesellschaftlicher Zwänge.

Zudem wurde die Rolle der Frauenbewegung angesprochen, die sich im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Moral und sexueller Selbstbestimmung bewegte. Ziel war eine Form der sexuellen Befreiung, die jedoch nicht den Bruch mit gesellschaftlich akzeptierten Normen bedeutete, sondern eher deren stille Umdeutung. In diesem Zusammenhang wurden auch kulturelle Räume wie Theaterbesuche und kleinere Gesellschaften erwähnt, in denen Frauen durch leichte Flirts eine gewisse Attraktivität signalisieren konnten – ohne jedoch als „verführerisch“ zu gelten.

Der Vortrag schloss mit dem Hinweis darauf, dass bisherige Forschung häufig eine normative Perspektive auf Sexualität reproduziert habe, anstatt auch die vielschichtigen Formen weiblicher Begehren und Ausdrucksweisen ernst zu nehmen. Die Verwendung von Codewörtern wie „köstlich“, „behaglich“ oder „wonnevoll“ in Tagebüchern und Briefen wurde als Beleg für ein nicht nur konventionell gelebtes, sondern auch sprachlich verschlüsseltes sexuelles Erleben gewertet. Die Vorstellung, Sexualität sei für Frauen irrelevant, wurde so auf vielfältige Weise unterlaufen.

Insgesamt bot der Vortrag einen differenzierten Einblick in die Sexualsozialisation bürgerlicher Mädchen im späten Kaiserreich und machte deutlich, dass trotz rigider gesellschaftlicher Normen durchaus vielfältige Spielräume für eigene Erfahrungen existierten – Möglichkeitsräume, deren Analyse neue Perspektiven auf die Geschichte von Sexualität, Geschlecht und Pädagogik eröffnet.

Calvin Kamp, Alexander Ponomartsov, Maike Udelhofen

24.04.2025

06.05.2025

„Sittliche Notstände auf dem Lande“? Jugendschutz und (weibliche) Sexualität um 1900

Prof. Dr. Sylvia Kesper-Biermann, Universität Hamburg

Vortragsbericht zur Ringvorlesung: „Sittliche Notstände auf dem Lande: Jugendschutz
und (weibliche) Sexualität um 1900“ – Prof. Dr. Silvia Kesper-Biermann –

Der Vortrag „Sittliche Notstände auf dem Lande: Jugendschutz und (weibliche) Sexualität um 1900“ von Professor Dr. Silvia Kesper-Biermann befasste sich mit der Erforschung und Analyse weiblicher Sexualität im ländlichen Deutschland um die Jahrhundertwende. Der Vortrag basierte auf einer umfangreichen Umfrage der deutschen Sittlichkeitsvereine aus dem Jahr 1894, die durch Pastor Karl Wagner initiiert wurde und das Sexualverhalten der Landbevölkerung, insbesondere der weiblichen Jugend, untersuchte. Ziel der Umfrage war es, die vermeintlichen „sittlichen Notstände“ auf dem Land zu erfassen und zu bewerten.

Hintergrund und Methodik der Umfrage

Im Rahmen der Umfrage wurden über 14.000 Fragebögen an evangelische Landpfarrämter im Deutschen Kaiserreich verschickt, von denen etwa 7 % ausgefüllt zurückgesandt wurden. Diese geringe Rücklaufquote sowie die ausschließliche Fokussierung auf protestantische Pfarrämter zeigen bereits methodische Einschränkungen der Untersuchung. Frauen waren weder als Befragte noch als Auswertende beteiligt, und auch die Bewohnerinnen des ländlichen Raumes kamen nicht direkt zu Wort. Die Ergebnisse der Umfrage wurden in zwei umfangreichen Bänden mit insgesamt rund 1.300 Seiten veröffentlicht und bilden die Grundlage der Analyse.

Erfahrungs- und Möglichkeitsräume weiblicher Sexualität

Die Untersuchung zeigte, dass junge Frauen auf dem Land über ein erstaunlich hohes Wissen über Sexualität verfügten. Dieses Wissen wurde durch den Austausch unter Gleichaltrigen, zum Beispiel in sogenannten Konfirmandenbüchern, erworben. Treffpunkte für junge Frauen und Männer waren Straßen, Feste, Spinnstuben oder Flechtstuben, in denen sie zusammentrafen, um Handarbeiten zu erledigen und sich auszutauschen. Diese Orte galten als „sittlich gefährdet“, da sich dort auch junge Männer einfanden. Die Berichte der Pfarrer betonten die angebliche Unsittlichkeit, die in diesen Begegnungsorten herrschte, und beschrieben sie als Schauplätze „zügellosen Treibens“.

Besonders problematisch erschien aus Sicht der Sittlichkeitsbewegung der außer- bzw. voreheliche Geschlechtsverkehr, der als Maßstab für Unsittlichkeit galt. Der Anteil unehelicher Geburten lag in der untersuchten Zeit bei etwa 10%, wobei dies je nach Region stark variierte. Die Umfrage dokumentierte jedoch, dass sexuelle Kontakte auch dann stattfanden, wenn sie keine Schwangerschaft zur Folge hatten. Die Pfarrer berichteten zudem von einer aktiven Rolle junger Frauen bei der Anbahnung sexueller Beziehungen, was im Widerspruch zum bürgerlichen Idealbild der passiven Weiblichkeit stand.

Normengefüge und soziale Kontrolle

Die Umfrageergebnisse verdeutlichen das Spannungsverhältnis zwischen den konservativen Moralvorstellungen der Sittlichkeitsbewegung und den gelebten Traditionen der ländlichen Bevölkerung. Während die Pfarrer vorehelichen Geschlechtsverkehr als moralisches Problem ansahen, betrachtete die Landbevölkerung diesen oft als normalen Bestandteil des Verlöbnisses. Besonders in den besitzlosen Schichten waren sexuelle Kontakte vor der Ehe weit verbreitet. Die Sittlichkeitsbewegung forderte deshalb Maßnahmen zur „sittlichen Erneuerung“, wie etwa die Gründung von Jungfrauenvereinen, in denen junge Frauen eine moralische Erziehung erhalten sollten. Diese Vereine stießen jedoch auf geringes Interesse.

Ein weiterer Aspekt war die Kritik an der fehlenden elterlichen Kontrolle und der geringen Kirchlichkeit der Jugend. Die Pfarrer warfen den Eltern und Dienstherren vor, ihre Aufsichtspflicht zu vernachlässigen, was zur „sittlichen Verwahrlosung“ führe. Der moralische Diskurs der Sittlichkeitsbewegung orientierte sich stark an bürgerlich-protestantischen Werten, die sexuelle Enthaltsamkeit bis zur Ehe forderten.

Wandel und Kontinuität

Trotz der Kritik der Sittlichkeitsbewegung zeigten die Berichte, dass die sexuelle Kultur auf dem Land stark von traditionellen Normen geprägt war, die bis in die Frühe Neuzeit zurückreichten. Begegnungen zwischen jungen Frauen und Männern erfolgten häufig in einem Rahmen, der durch dörfliche Traditionen bestimmt war. Gleichzeitig eröffnete der sozioökonomische Wandel des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Abwanderung in die Städte und der daraus resultierende Arbeitskräftemangel, neue Möglichkeitsräume. Junge Frauen konnten nun bessere Arbeitsbedingungen aushandeln, darunter auch das Recht, sich mit jungen Männern zu treffen.

Reaktionen und Kontroversen

Die Reaktionen auf die Umfrage waren gespalten. Während einige die Ergebnisse als schockierend empfanden und eine moralische Krise auf dem Land sahen, bezweifelten andere die Repräsentativität der Befunde. Kritiker warfen der Umfrage eine einseitige und voreingenommene Sichtweise vor, da sie auf den normativen Vorstellungen der Sittlichkeitsbewegung basierte. Zudem widersprach das Bild der „sittlichen Notstände auf dem Lande“ der idealisierten Vorstellung einer moralisch intakten ländlichen Gesellschaft.

Fazit

Der Vortrag verdeutlichte, dass die Umfrage über die „geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse der evangelischen Landbewohner“ ein ambivalentes Bild der ländlichen Sexualität um 1900 zeichnete. Sie offenbarte eine Vielfalt an Traditionen und Verhaltensmustern, die oft im Widerspruch zu den moralischen Idealen der Sittlichkeitsbewegung standen. Die Untersuchung zeigt den Konflikt zwischen einem bürgerlich-protestantischen Normengefüge und der gelebten Realität der Landbevölkerung. Letztlich dokumentiert die Umfrage nicht nur das Sexualverhalten junger Frauen, sondern auch den Wandel in der Wahrnehmung und Bewertung weiblicher Sexualität durch konservative Kreise.

Julia Campsen, John Heintke und Timo Oelzner

20.05.2025

Heterosexualität in einer Männerwelt erlernen.
Sexuelle Tabus, moral panics und Praktiken der
Masturbation in der Internatserziehung des 19.
und 20. Jahrhunderts

PD Dr. Daniel Gerster, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Vortragsbericht zur Ringvorlesung: ,,Heterosexualität in einer Männerwelt erlernen. Sexuelle Tabus, moral panics und Praktiken der Masturbation in der Internatserziehung des 19. und 20. Jahrhunderts“

Der Vortrag beleuchtete, wie männliche Jugendliche im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Kontext von Internatserziehung mit Sexualität konfrontiert und wie Heterosexualität in einer homosozialen Männerwelt vermittelt wurde. Der geografische Fokus lag auf Großbritannien und Deutschland. Es wurde dargestellt, wie Institutionen der Internatserziehung auf sexuelle Entwicklung, insbesondere männliche Sexualität, reagierten, sie lenkten und normierten. Dabei stand nicht nur die Vermittlung eines heterosexuellen Begehrens im Zentrum, sondern auch die Frage, wie mit gleichgeschlechtlichen Kontakten, sexuellen Praktiken wie Masturbation sowie moralischen Vorstellungen umgegangen wurde.

Im 19. Jahrhundert war das Verständnis von Sexualität von tiefgreifenden gesellschaftlichen und medizinischen Vorstellungen geprägt. Sexualität galt als formbar und potenziell gefährlich, insbesondere in der Entwicklungsphase männlicher Jugendlicher. Die Geschlechtercharaktere von Mann und Frau wurden dabei als strikt unterschiedlich und sich ergänzend konzipiert und wurden häufig gegenübergestellt. Masturbation wurde als besonders schädlich bewertet. Sie galt nicht nur als gesundheitlich bedenklich, sondern auch als moralisch verwerflich und gefährlich für die gesellschaftliche Reproduktion. In diesem Kontext entstanden regelrechte Onaniedebatten. Es wurde befürchtet, dass übermäßige Selbstbefriedigung die körperliche, seelische und soziale Entwicklung junger Männer gefährden könnte. Außerdem herrschte große Angst, dass durch Selbstbefriedigung sexuelle Fantasien weiter angeregt würden. Entsprechend entwickelten sich medizinische und pädagogische Maßnahmen zur Kontrolle der Sexualität, etwa die Einführung eines Anti-Masturbationskorsetts (1819), kalte Bäder oder ein eng getakteter Tagesablauf.

Internatsschulen stellten in diesem Kontext eine zentrale Erziehungsinstanz dar. Sie waren homosoziale Räume, was bedeutet, Jungen und Mädchen blieben unter sich und wurden von männlichen bzw. weiblichen Lehrer:innen unterrichtet. Der Erziehungsauftrag der Internate zielte auf die Vermittlung sittlicher Werte, Disziplin und Körperbeherrschung. Die schulische Sozialisation hatte dabei auch den Zweck, junge Männer auf spätere Führungsrollen in der Gesellschaft vorzubereiten. Zu enge Freundschaften unter Schülern galten als bedenklich, weil sie sexuelle Nähe und emotionale Abhängigkeit fördern könnten. Früh entdeckte oder offen gelebte Sexualität, wie die Masturbation, wurde als „Fehlentwicklung“ gewertet. Der Alltag in den Internaten war durchorganisiert, Freizeitaktivitäten wie Sport oder Theater dienten der Kanalisierung jugendlicher Energien. Ein striktes Überwachungssystem, auch durch ältere Schüler, sorgte für Disziplin und Kontrolle. Bei sexuellem Fehlverhalten drohten strenge Sanktionen bis hin zum sofortigen Schulausschluss. Auch bauliche Maßnahmen wie das Entfernen von Toilettentüren oder das Zunähen von Hosentaschen dienten der Kontrolle. Die zentrale Strategie war es, durch Disziplinierung, körperliche Ertüchtigung und Überwachung das sexuelle Verlangen zu unterdrücken oder gar zu unterbinden.

Die Frage nach tatsächlichem Wissen und sexuellen Praktiken innerhalb der Internate lässt sich nur schwer eindeutig beantworten. Die Quellenlage besteht aus vielen Fragmenten und ist oft ideologisch überformt. Autobiografische Zeugnisse ehemaliger Internatsschüler enthalten häufig moralisierende Werturteile, übertreiben oder verharmlosen und sind aus heutiger Sicht nur vorsichtig zu interpretieren. Strafbücher, Lehrerprotokolle und Berichte von Ärzten oder Pädagogen bilden weitere Quellen, weisen jedoch erhebliche Lücken auf. Es bleibt eine große Dunkelziffer sexueller Erfahrungen. Zeitgenössische Schätzungen gehen davon aus, dass 70 bis 80 Prozent der Jungen Erfahrungen mit Masturbation gemacht hatten, bei 20 Prozent sei es zu sexuellen Handlungen mit anderen Jungen gekommen. Die gleichaltrige Peer-Gruppe war dabei häufig der zentrale Bezugspunkt für sexuelle Exploration. In manchen Fällen übernahm ein Junge symbolisch die Rolle eines Mädchens, um heteronormative Dynamiken zu „üben“. Diese Rollenspiele unter Gleichaltrigen bildeten ein ambivalentes Lernfeld zwischen Aneignung heterosexuellen Verhaltens und tatsächlichen homosexuellen Erfahrungen.

Im frühen 20. Jahrhundert änderten sich zwar einige Rahmenbedingungen, doch das grundlegende Ziel, Sexualität zu kontrollieren und zu normieren, blieb bestehen. Die Erziehungsideale verschoben sich allmählich, Internate wurden aber weiterhin als Räume verstanden, in denen Sexualität überwacht werden musste. Homosexualität wurde zunehmend als krankhaft oder unnormal beurteilt. Bereits bei ersten Verdachtsmomenten wurden Psychologen hinzugezogen. Gleichzeitig eröffneten Internate ihren Bewohnern Erfahrungsräume, in denen sexuelle Informationen kursierten und auch sexuelle Handlungen stattfanden.

Die Mädchen in gemischtgeschlechtlichen Internaten blieben zumeist in der Minderzahl und wurden räumlich weitgehend getrennt. Das Ideal der Heterosexualität blieb formal bestehen, wurde aber durch den Internatsalltag nicht aktiv unterstützt. Vielmehr entstand ein Spannungsfeld. Einerseits sollten Internate zur Herausbildung sittlich gefestigter, heterosexueller Individuen beitragen. Andererseits boten sie als homosoziale Räume mit begrenzter elterlicher Kontrolle eine Plattform für vielfältige sexuelle Erfahrungen, auch wenn diese meist verdeckt waren. Letztlich zeigte der Vortrag, dass die strenge, sexualfeindliche Internatserziehung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts keineswegs die sexuelle Praktiken ausschloss, sondern diese vielmehr auf paradoxe Weise mitprägte. Durch Überwachung, Kontrolle und Tabuisierung wurden sexuelle Erfahrungsräume geschaffen, in denen sich Jugendliche orientierten und oft im Spannungsfeld zwischen Anpassung, Verdrängung und Emanzipation standen.

Nils Bierwisch, Paul Böhme, Oskar Furtak

03.06.2025

Als Sexualerziehung „Sache der Pädagogen“ wurde. Zum Diskurs über Onanie und sittliche Gefährdung im Deutschen Reich um 1900

Prof. Dr. Ingrid Lohmann, Universität Hamburg

17.06.2025

Die Erziehung des weiblichen „Geschlechts“: Körper- und Geschlechterwissen in der Ratgeberliteratur (1900 – 1930)

Prof. Dr. Esther Berner, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Koordination

Prof Dr. Sylvia Kesper-Biermann, Fakultät
für Erziehungswissenschaft, Universität
Hamburg, mit dem Netzwerk Hamburger Bildungshistorikerinnen

www.zfw.uni-hamburg.de/av-paedagogik-sexualitaet