Europäische Wissensnetzwerke und landwirtschaftliche Entwicklungskonzepte im Mittelmeerraum im 20. Jahrhundert

Heisenbergprojekt

Ziel des Forschungsprojektes ist, die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert von seinen ländlichen Peripherien im Süden her neu zu erzählen. Kann man den europäischen Süden rund um das Mittelmeer mit den Diskussionen um einen „Globalen Süden“ in Beziehung bringen? Waren Unterentwicklung und Modernisierung auch innerhalb von Europa wirkmächtige Wahrnehmungsmuster, die als Hintergrund für die Integrationspolitik im Mittelmeerraum zu verstehen sind? Welchen Einfluss haben und hatten wissenschaftliche Diskurse auf die Konstruktion von einer mediterranen „Rückständigkeit“? Und welche Lern- und Dialogprozesse wurden und werden durch agrarwissenschaftliche Netzwerke angestoßen? Mithilfe einer Kombination wissens- und wirtschaftshistorischer Ansätze sowie transfergeschichtlicher und komparativer Perspektiven sollen solche Fragen für die südliche europäische Peripherie untersucht werden. Durch die Wissenszirkulation zwischen Mitteleuropa, dem nördlichen und dem südlichen Mittelmeerraum in Fragen der ländlichen Entwicklungspolitik wird deutlich, wie sehr nicht nur neue Praktiken der Integration etabliert, sondern auch Elemente kolonialer Projekte der mise en valeur übertragen und ältere Formen sozialer und wirtschaftlicher Verflechtungen im Mittelmeerraum fortgesetzt wurden. 

Das Projekt wird von einer thematischen und einer analytischen Klammer zusammengehalten und untersucht das 20. Jahrhundert von seinen Anfängen bis in die Hochphase westeuropäischer Integrationspolitik in den 1970er Jahren.

Empirisch stützt es sich auf zwei Fallstudien, durch die die Geschichte europäischer Interventionspolitiken im Mittelmeerraum erzählt werden. Im ersten Projekt geht es um die Geschichte der ländlichen Soziologie und ihrer Auseinandersetzung mit dem Mittelmeerraum als zentralem Kristallisationspunkt einer neuen Idee von Modernisierung. Das zweite Projekt beschäftigt sich mit der Geschichte des ländlichen Beratungswesens in verschiedenen Regionen des Mittelmeerraums.

Die Soziologie der ländlichen Moderne

Émile Durkheim (1858-1917) war einer der frühen Vordenker mediterraner Unterentwicklung

Seit den Zeiten des französischen Positivismus hatte der Topos mediterraner Unterentwicklung einen festen Platz im Kanon soziologischer Forschung. Der Mittelmeerraum wurde dabei zum ursprünglichen archaischen „Anderen“ des industrialisierten Nordeuropa.

Pierre Guillaume Frédéric Le Play (1806-1882)

Die Frage der Definition von ‚Rückständigkeit‘ wurde nicht zuletzt auch zu einer Frage der Techniken und Methoden von deren Untersuchung. Im frühen 20. Jahrhundert erlangte die französische Schule der réforme sociale in dieser Beziehung besondere Bedeutung. Die Beobachtung familiärer Clanstrukturen in den Gesellschaften und Gemeinschaften rund um das Mittelmeer entwickelte sich zu einem methodischen Angelpunkt. Hierbei kamen die infrastrukturelle Erreichbarkeit entlegener Regionen und die Fantasien technologischer Machbarkeit in der Erfassung sozialer Probleme durch statistische Methoden zusammen. Dabei waren die Wissenschaftler (und ab der Zwischenkriegszeit zunehmend auch die Wissenschaftlerinnen) ihrem Selbstverständnis nach nie nur neutrale Beobachtende. Stattdessen meinten sie durch ihre Untersuchungen abgelegene Regionen für die Außenwelt zu öffnen und diese mit größeren sozialen Problemen in Verbindung zu setzen.

Auf solchen Karten sollten türkische Bauern in den 1940er Jahren ihre subjektive geographische Vorstellung des eigenen

Diese Schule der ingénerie sociale hatten eine breite Wirkung auf die entstehende Sozialwissenschaften rund um das Mittelmeer. Sie definierten Untersuchungsmethoden und -agenden und trugen zu einer neuen Dorfsoziologie bei, die sich als Motor gesellschaftlichen Wandels verstand.

I.P. etablierte das Begriffspaar „Honor and Shame“ als ethnologisches Interpretationsangebot für die gesellschaftlichen Strukturen im Mittelmeer

Auch in der Nachkriegszeit blieb das Mittelmeer ein beliebtes Betätigungsfeld der Sozialwissenschaften. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten trat die Ethnologie das Erbe des braudelschen Mittelmeertopos an und untersuchte das mediterrane Becken als geschlossenen kulturellen Raum.

Beratung als transnationale Kulturtechnik im ländlichen Raum

Fritz Baade (1893-1974), später Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, war einer der prominentesten deutschen Agrarwissenschaftler, der im Mittelmeerraum landwirtschaftliche Modernisierungsprogramme vorantrieb.

(Verleihung des Kulturpreises 1970 an Prof. Fritz Baade, Stadtarchiv Kiel, CC BY-SA 3.0 DE)

Die Politiken europäischer ländlicher Modernisierung waren eng verwoben mit den Anliegen einer „Inneren Kolonisierung“ – einer Erweiterung, Erschließung und Kontrolle bislang rückständiger ländlicher Gebiete im eigenen Land.  In den ostdeutschen Gebieten wurden etwa im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zahlreiche solcher Projekte angestoßen, die in den landwirtschaftlichen Versuchs- und Ausbildungsstationen (als erstes etwa im sächsischen Möckern 1851) ihren sichtbarsten Ausdruck fanden. Auch die landwirtschaftliche Genossenschaftsbewegung stand im frühen 20. Jahrhundert in dieser Tradition. 

Sowohl im Rahmen einer kryptokolonialen Wirtschaftspolitik der Zwischenkriegszeit, wie auch neuer Produktivitätsprogramme in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden solche Institutionen ländlicher Modernisierung auch im Mittelmeerraum etabliert. In der Türkei oder in Tunesien entstanden landwirtschaftliche Musterbetriebe, in anderen Ländern wurden insbesondere Programme zum Aufbau von ländlichen Genossenschaften etabliert und durch Berater aus mitteleuropäischen Ländern unterstützt. Auf deutscher Seite engagierten sich auch zahlreiche ehemalige Exilwissenschaftler, die aus politischen Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren, in solchen Projekten.

Im Türkischen Tahirova wurden früh die tatsächlichen und die zukünftigen Erträge berechnet

Die Musterbetriebe sollten dabei nicht nur technologische Innovationen und die aus den USA oder Europa exportierten Landmaschinen verbreiten, sondern auch Unternehmergeiste oder Grundlagen für landwirtschaftliche Buchhaltungstechniken verbreiten. 

Bereits in den frühen 1960er Jahren wurde im „Merinoprojekt“ versucht, die Viehwirtschaft im Mittelmeerraum zu reformieren

Solche Projekte machte die westlichen „Experten“ allerdings auch abhängig von der Zusammenarbeit mit der örtlichen Bevölkerung und deren Wissen. Gerade diese dialogische Dimension des gegenseitigen Lernens und die sozialen Bedingungen von Wissensflüssen sollen in diesem Teilprojekt einen wichtigen Raum einnehmen.

HSU

Letzte Änderung: 9. Mai 2023