„Berufsbildung ohne Subjekt?“

In einer von Digitalisierung, Spannungsfeldern und dynamischem Wandel geprägten Arbeitswelt bekommen Arbeit und Beruf zunehmend einen paradoxen Charakter: Einerseits können Arbeitsprozesse durch die Ungewissheit, Komplexität und Unvorhersagbarkeit immer weniger objektiviert werden. Das heißt, dass subjektivierendem situativem Arbeitshandeln und damit dem handelnden Subjekt selbst für den Unternehmenserfolg eine immer größere Bedeutung zukommt. Andererseits ist das handelnde Subjekt durch das Effizienzstreben objektivierenden Rationalisierungsmaßnahmen ausgesetzt (vgl. Zimmer 2010; Böhle 2003). Die Beschäftigten müssen ihre Identität permanent zwischen objektiven Bedingungen und subjektiven Möglichkeiten ausbalancieren (Krappmann 1975). Zimmer (2010) spricht sich dafür aus, die dialektische Entwicklung von Subjektivität und Berufsarbeit gezielt zu gestalten und sieht Berufsbildungsinstitutionen hierbei in der Pflicht. Tatsächlich haben Berufsschulen explizit den Auftrag, junge Menschen zur Bewältigung und Mitgestaltung einer dynamischen, komplexen „Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialer und ökologischer Verantwortung“ zu befähigen (vgl. KMK 2004/2016), d. h. sie müssen Auszubildende in die Lage versetzen, ihr subjektives Potenzial trotz vielfältiger Objektivierungszwänge zu entfalten. Dieser Beitrag zeigt am Beispiel einer Dokumentenanalyse der Ordnungsmittel und qualitativer Fallstudien aus dem ausbildungsstarken und gut erforschten Einzelhandel, dass dies trotz aufgaben- und handlungsorientierter Lernfelddidaktik bisher nur sehr begrenzt gelingt (vgl. Thole 2021). Ein wesentliches Problem besteht darin, dass sowohl in den Ordnungsmitteln als auch im Unterricht objektivierte Arbeits- und Geschäftsprozesse als Bezugspunkt für subjektive Bildungsprozesse gewählt werden. Mit dem so akzentuierten Fokus auf Kompetenzorientierung hat die Berufsbildung nur eine von vier empirisch nachweisbaren Entwicklungsaufgaben (Kompetenz, Anerkennung, Identifikation, Gestaltung) im Blick. Die exemplarischen Fallstudien zeigen, dass die Auszubildenden bei der Bewältigung individueller Handlungsproblematiken auf sich allein gestellt sind und sowohl expansive als auch defensive Bewältigungsstrategien (vgl. Holzkamp 1995) wählen. In beiden Fällen bleiben theoretisch mögliche Win-Win-Potenziale zwischen Unternehmen und Beschäftigten jedoch ungenutzt. Abschließend werden didaktische Prinzipien zur gezielten Förderung der Identitätsbalance skizziert.

HSU

Letzte Änderung: 11. August 2022