Über uns

Bedarfsgerechtigkeit ist ein in der aktuellen normativen Theorie der Philosophie, Ökonomie und politischen Theorie ebenso wie in der experimentellen Forschung zu Verteilungsfragen in Psychologie und Ökonomie eher nachrangig behandelter Gegenstand. Während die Verteilungsprinzipien der Gleichheit (Equality) und der Billigkeit (Equity) inhärente Legitimationsprobleme aufgrund der Ausblendung des jeweils anderen Prinzips aufweisen, könnte eine Orientierung am Bedarf legitimatorische Vorteile besitzen und weniger der Kritik am Verteilungsergebnis ausgesetzt sein.

Der zunehmenden Verknappung von gesellschaftlichen Ressourcen ebenso wie der sinkenden Dispositionsfähigkeit von Staaten im Zuge von Globalisierung, ökonomischen Krisen und Verschuldung wohnt ein zunehmendes Konfliktpotenzial um Fragen der Verteilung inne. In diesem Kontext will die Forschergruppe einen Beitrag zur Beantwortung der gesellschaftlich relevanten Frage leisten, wie Verteilungsprozeduren von knappen und unteilbaren Gütern organisiert werden können, um das innewohnende Konfliktpotenzial so zu begrenzen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht gefährdet wird. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Fragen, welche Gerechtigkeitsprinzipien und welche Verteilungsprozeduren die größten Chancen haben, unter realistischen Präferenzbedingungen allgemeine Anerkennung zu erhalten und eine stabile gesellschaftliche Entwicklung zu gewährleisten. Insbesondere wird dabei anhand von zwei Leithypothesen untersucht, ob und inwieweit die Objektivierung von Bedarfen durch die Herstellung von Transparenz (soziale Objektivierung) und den verstärkten Einsatz von Expertise (sachliche Objektivierung) deren gesellschaftliche Akzeptanz erhöhen kann.

Verteilungsentscheidungen tangieren Fragen, die Gegenstand der Psychologie, der Wirtschaftswissenschaften, der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Philosophie und anderer Disziplinen sind. Von daher kann diese Forschungsagenda nur interdisziplinär bearbeitet werden. Dies äußert sich nicht nur im konzeptuellen Ineinandergreifen verhaltens-, gesellschafts- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven im Gesamtprojekt, sondern vor allem auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit innerhalb der Teilprojekte. Jedes Teilprojekt ist als Diskussion zwischen mindestens zwei Disziplinen angelegt.

Das Projekt zielt also erstens auf die Ermittlung von Mustern des Entscheidungsverhaltens bei Verteilungsfragen ab, die sich endogen unter bestimmten individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen herausbilden. Zweitens geht es um die Beantwortung der Frage, ob Verfahren der Verteilung, die dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit folgen, auch unter Bedingungen der empirisch auftretenden Muster von Verteilungsentscheidungsverhalten bestimmten normativen Kriterien wie Rationalität, Legitimität, Stabilität und Nachhaltigkeit entsprechen können. Zu fragen ist also, ob Verteilungsentscheidungen unter Prinzipien der Bedarfsgerechtigkeit auf gesellschaftlicher Ebene rational und legitim getroffen und dann als stabil und nachhaltig angesehen werden können.

Dabei wird auch auf das Spannungsverhältnis zwischen  einem Entscheidungsverhalten gemäß Gerechtigkeitsprinzipien und solchem, das von egoistischen Motiven und strategischen Überlegungen bestimmten sozialen Präferenzen geleitet wird, eingegangen. Verteilungspräferenzen und Gerechtigkeitsurteile können sich auf soziale Präferenzen und/oder Gerechtigkeitsprinzipien gründen. Wir gehen davon aus, dass Verteilungsentscheidungen gemäß dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit unter bestimmten Voraussetzungen diese Spannung minimieren, zur Konvergenz unterschiedlicher Meinungen beitragen und daher für die Stabilität und Nachhaltigkeit eines Verteilungssystems sorgen. Allerdings wohnt den vorgelagerten Prozessen der Identifikation und der Anerkennung von Bedarfen ein hohes Konfliktpotential inne, weswegen sich die Forschergruppe auch diesen Dimensionen einer Theorie der Bedarfsgerechtigkeit intensiv widmet.

Aus den in den Experimenten aufgezeigten faktischen Schwierigkeiten oder Grenzen der Bestimmung bedarfsgerechter Verteilungen ergeben sich Rückschlüsse auf die Erreichbarkeit bestimmter normativer Ansprüche an Bedarfsgerechtigkeit, zum Beispiel in Form struktureller Instabilitäten, die in der normativen Theorie reflektiert und zur Neukonstruktion von Verteilungskonzepten im Rahmen einer dadurch informierten normativen Theorie der Bedarfsgerechtigkeit führen können.

HSU

Letzte Änderung: 9. März 2021