Tagungsbericht zum Workshop: Tourismus und Aussöhnung in Europa

Hier finden sie den Tagungsbericht zum gemeinsamen Workshop der Helmut-Schmidt-Universtität und des Nord-Ost-Institutes – auch bequem als PDF-Datei zum Download.

Vor dem Hintergrund einer alltagsgeschichtlichen Perspektive auf eine europäische Aussöhnung im Zeitalter der Weltkriege und des Ost-West-Konfliktes widmete sich der vom Lehrstuhl für die Geschichte Osteuropas und Ostmitteleuropas an der HSU und dem Nordost-Institut Lüneburg organisierte Workshop verschiedensten Facetten transnationaler touristischer Reisen. Inwiefern trugen durch Tourismus entstandene persönliche Kontakte zum Abbau von inkorporierter, transgenerationaler Feindbilder bei? Inwieweit wurden touristische Kontakte vom Fortbestehenden eben dieser Feindbilder erschwert? Welchen Beitrag leistete der internationale Tourismus zur Aussöhnung und wo stand die frühere Kriegsgegnerschaft dem Tourismus im Wege? Diese und weitere zentrale Fragen wurden an zwei Tagen anhand unterschiedlichster Fallbeispiele am Nordost-Institut in Lüneburg verhandelt. Was grundsätzlich unter europäischer Aussöhnung verstanden werden kann, erörterte Jan-Hinnerk Antons (Hamburg) in seinem Einführungsstatement: Der aus verschiedenen Disziplinen – etwa aus theologischer, psychologischer oder aber geschichtswissenschaftlicher – zu beleuchtende Begriff der Aussöhnung zeichne sich vor allem durch seine Prozesshaftigkeit aus. Aussöhnung sei demnach kein Zustand, der erreicht werden solle, sondern vielmehr eine absichtsvolle Dynamik. Dass das Zusammendenken von Tourismus und Aussöhnung bislang in der Forschung vernachlässigt wurde, stellte Antons gleichsam heraus. Die Perspektive „von unten“ verweise dabei auf den multimotivationalen Charakter von Tourismus; von klassischen Auslandsreisen zu Bildungsreisen bis zum heritage tourism, die nicht zwangsläufig eine Versöhnungsintention beinhalten würden.

Mit Kontinuitäten und Neuanfängen entlang des transnationalen Tourismus beschäftigte sich das erste Panel des Workshops. Im eröffnenden Vortrag zu transnationalen Begegnungen im europäischen Tourismus zwischen 1900 und 1930 stellte Claudia C. Gatzka (Freiburg) das Wechselverhältnis von transnationalem touristischem Austausch und nationalen Feindbildern heraus. Die Bedeutung des Klassencharakters touristischer Unternehmungen betonend, verdeutlichte Gatzka das Wirken imperialer Formatierung des tourist gaze im europäischen Tourismus. Mit der Wiederaufnahme deutscher und niederländischer touristischer Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte sich sodann Matthias Frese (Münster). Obgleich die vorsichtige Annäherung beider Länder im Vordergrund gestanden habe, sei das eigentliche Ziel bei den Tourismusorganisationen und Reiseanbietern in beiden Ländern die Herstellung sowie der Ausbau neuer touristischer Kontakte und damit des touristischen Geschäfts gewesen. Der von deutscher Seite unausgesprochene Begriff der Aussöhnung sei dabei ein subkutanes Ziel der eigenen Entlastung gewesen. Halyna Roshchyna (Hamburg) stellte im Anschluss die vielfältige Tourismusgeschichte der ukrainischen Karpaten in der Zwischen- und Nachkriegszeit dar. Besonders der 1911 in Lemberg gegründeten Jugend- und Pionierorganisation „Plast“ habe sich als Organisator touristischer Reisen durch die Karpaten, die darauf abgezielt haben, das nationale Bewusstsein zu schärfen, hervorgetan.

Kirsten Bönker (Köln) läutete das zweite Panel zu Praktiken der Versöhnung und Freundschaft ein. Mit einer case study zur Städtepartnerschaft zwischen Leningrad und Hamburg im Kalten Krieg verdeutlichte Bönker, dass Kommunikation und Reisen durch den Eisernen Vorhang bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion zunahmen und dabei von einer Sprache begleitet wurden, die zusehends auf Annäherung ausgerichtet war, auch wenn der translokale Kommunikationsraum relativ beschränkt blieb. Den Blick auf Südosteuropa richtend referierte Nikola Bakovic (Gießen) zu einem Beispiel der innerstaatlichen Städtepartnerschaft – der „Zug der Brüderlichkeit und Einheit“. Dieser verkehrte von 1961 bis 1989 zwischen Serbien und Slowenien und habe, so Bakovic, den ideologischen Rahmen für die Artikulation vielzähliger touristischer Praktiken, der von einer Vielzahl von Akteur: innen auf kommunaler und republikanischer Ebene zur Förderung verschiedener institutioneller und kollektiver Interessen und Agenden genutzt wurde, geboten. Sodann richtete der letzte Vortrag des ersten Workshoptages von Jan-Hinnerk Antons (Hamburg) den Blick auf die transnationalen touristischen Verflechtungen zwischen Deutschland und Dänemark im Schatten des Zweiten Weltkrieges. Obgleich die BRD bereits Anfang der 1950er Jahre zum beliebtesten Reiseziel der Dän:innen avancierte, hätten NS-Besatzung und die damit verbundenen Verbrechen im dänischen kollektiven Gedächtnis nachgehallt. So hätten insbesondere revisionistische Forderungen aus der Bundesrepublik in den 1950er und 60er Jahren einer Versöhnung, die zur von der BRD intendierten moralischen Wiederauferstehung hätte beitragen können, im Wege gestanden.

Resümierend betonte Jörn Happel, dass Tourismus auch als Aneignungsprozess des Anderen, als othering verstanden werden könne. Gleichsam warf Bianca Hoenig auf, dass eine vermeintliche Versöhnung auch eine Dynamik entfalten könne, die in die konträre Richtung gehe. Insofern könne auch von „Entsöhnung“, von Entflechtung die Rede sein, was an mehreren Beispielen der Referent:innen deutlich geworden wäre. Zudem plädierte sie dafür, den Tourismusbegriff auch im Kontext der NS-Besatzungen, bspw. die dänische „Sahnefront“ im Wehrmachtsjargon, operabel zu machen. Grundsätzlich ließen sich zwei Formen des Tourismus ausmachen – symmetrischer und asymmetrischer, wobei letzterer etwa in Empire-Strukturen Ausdruck erhielte, so Claudia Gatzka. Auch die nicht zu vernachlässigende ökonomische Bedeutung des Tourismus wurde hervorgehoben. So wären Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung des bundesdeutschen Tourismus verstärkt von ökonomischen Interessen geprägt gewesen. Dass der bilaterale Kontakt durchaus auch von Erfolg und Gegenseitigkeit geprägt sein kann, verdeutlichte noch einmal Kirsten Bönker am Beispiel der Hamburger-Leningrader Städtepartnerschaft. Insbesondere die sowjetische Seite habe im transnationalen Reiseverkehr zwischen dem bösen Regime und dem guten Volk, das Absolution durch die Anerkennung der UdSSR erhalten könne, unterschieden, so David Feest. Wo die Grenzen des mitunter Jahrzehnte umfassenden Aussöhnungsprozesses liegen, hat sich am 24. Februar 2022 gezeigt, als Hamburg die Städtepartnerschaft aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgesetzt hat.

Das dritte Workshoppanel hob Tourismus auf eine erinnerungskulturelle Ebene, indem es sich unter anderem dem Zusammenspiel von touristischen Besuchen von Gedenkstätten und Erinnerungsorten widmete. Mit dem sogenannten heritage tourism und der Denkmalpflege am Beispiel deutsch-polnischer Beziehungen befasste sich Lionel Picard (Dijon). Der in den 1970er Jahren aufkommende deutsche Heimattourismus avancierte vom Vermittler sentimentaler Gefühle für die alte zum Umsetzer konkreter Projekte für die Pflege des deutschen Kulturerbes aber auch der deutsch-polnischen Aussöhnung. Unter emotionsgeschichtlicher Herangehensweise analysierte Alexey Kotelvas (Hamburg) sowjetische Reiseberichte, die nach der Europareise des Schiffs „Pobeda“ 1956 entstanden waren. Kotelvas stellte heraus, dass das „emotionale Regime“ der frühen Tauwetterjahre seine Semantik mit Blick auf die Darstellung und Bedeutung des Großen Vaterländischen Krieges änderte. So haben öffentliche Darstellung des Krieges nicht mehr nur als Argument für die Überlegenheit des sowjetischen Systems gedient, sondern auch als Mittel zur Stärkung der emotionalen Bindungen zu den europäischen Völkern. Das Phänomen des Dark tourism in den Blick nehmend, erörterte der Soziolge Ilya Sulzhytski (Greifswald) mit digitalen Methoden, welche Bedeutung den von Besucher:innen der Konzentrationslager Gedenkstätten in Polen hinterlassenen TripAdvisor Einträgen für einen Aussöhnungsprozess beigemessen werden kann.

Dass der Tourismusbegriff insbesondere für NS-Gedenkstätten anders gedacht werden müsse, wurde sodann Kern der Diskussion. So stünden gerade vermeintlich „normales“ touristisches Verhalten der Funktion des Ortes als Gedenkstätte diametral entgegen. Daneben betonte Ilya Sulzhytski, dass die Gedenkstätte Auschwitz vielmehr von einer Zukunftsvision getragen werden würde als vom Konzept der Aussöhnung. Bianca Hoenig fragte sodann danach, in welchen Verhältnis Aussöhnung und Gedenken stünden und ob Aussöhnung überhaupt zukunftsgerichtet sein müsse.

Den Charakter des multimotivationalen Tourismus unterstreichend, warf das letzte Panel des Workshops auf (vermeintlich) politische Motive für touristische Besuche der Sowjetunion. Kim Frederichsen (Copenhagen) veranschaulichte am Beispiel der dänisch-sowjetischen Freundschaftsassoziation entlang eines intent-experience-perception/reception-Modells, dass der dänische Tourismus in Form organisierter Pauschalreisen in die Sowjetunion einen gewissen Einfluss bei der Überwindung der ideologischen Kluft des Kalten Krieges ausüben konnte und die Versöhnung mit „den Anderen“ jenseits des Eisernen Vorhangs gefördert hat. Mithilfe der Analyse von KGB- und CIA-Dokumenten warf Odeta Rudling (Greifswald) den Blick auf ethnic tourism in die Litauische Sowjetrepublik ab Mitte der 1950er bis in die 1970er Jahre. Ethnischer Tourismus sei dabei ein Quellenbegriff, den die sowjetischen Sicherheitsbehörden für litauische Landsleuten aus den USA oder anderen westlichen Staaten verwendeten, die die LSSR besuchten und als besonders verdächtig galten. Die Aktivitäten der litauischen Reisenden könnten als Fern-Nationalismus verstanden werden, der darauf abzielte, die nationale Identität zu bewahren und zu entwickeln, so Rudling. Dass die Annäherung der Gäste an die politischen Ideale des Gastgeberlandes das explizite Ziel des sowjetischen Fremdenverkehrs gewesen sei, betonte David Feest (Lüneburg) in seinem Vortrag, der sich, unter Heranziehung von Berichten der Verwaltung für Auslandstourismus beim Ministerrat der ESSR sowie KGB-Berichten, mit dem Tourismus nach Tallinn von der zweiten Hälfte der 1960er bis in die frühen 70er Jahre auseinandersetzte. Aussöhnung sei bei diesen touristischen Begegnungen ein tragendes Element gewesen, auch wenn die von sowjetischer Seite vorausgesetzten starren Kategorien die tatsächlichen Haltungen der Reisenden gegenüber ihrem Gastgeberland ausgeblendet hätten.

Im abschließenden Kommentar plädierte Bianca Hoenig für ein grundsätzliches Nachschärfen bei der Verwendung der beiden Begriffe Tourismus und Aussöhnung. Tourismus beinhalte mannigfaltige Motive, die sich überschneiden könnten, was an unterschiedlichsten Beispielen des Workshops deutlich geworden sei. Doch welche Angebote könnten nun tourism studies machen? Innerhalb der Forschung sei ein verstärkter Fokus auf dem tourist gaze sowie touristischen Praktiken an sich dienlich. Aber auch die Auseinandersetzung mit und Diskrepanz zwischen Eigenem und Fremden sei von Bedeutung. Aussöhnung erfordere wie Tourismus eine konkrete Praxis; sie sei kein Zustand, sondern prozessual. Aussöhnung fordere geradezu nach Aktualisierung in Form von Ritualen. Umso konkreter Aussöhnung praktiziert werde, umso wirkmächtiger sei sie. Um erfolgreich zu sein, benötige sie gemeinsamen Themen und spezifischen Situationen. Als durchgängiges und damit nicht zu vernachlässigendes Motiv hob Bianca Hoenig schließlich das des Wirtschaftlichen hervor. Sowohl in Ost als auch in West sei die Versöhnung immer auch ein Verkaufsargument für touristische Reisen gewesen. Überspitzt ließe sich formulieren, dass Tourismus fähig sei, (schmerzhafte) Vergangenheit in Ware umzuwandeln, wodurch diese Vergangenheit bearbeitet werden könne.

Melanie Hussinger

Hamburg, den 11.10.2022

Tagungsbericht
HSU

Letzte Änderung: 30. November 2022