Studienjahr 2021 / 2022

Lehrveranstaltungen: HT 2021, WT 2022, FT 2022.

HT 2021

Lehrveranstaltungen Prof. Dr. Sanders, Dr. Behrens, Jung | Herbsttrimester 2021


HT 2021: Zur Kritik der pädagogischen Vernunft
Dr. Roger Behrens

»Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss … [Ein] Zeitalter, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten lässt«, schreibt  Immanuel Kant zu Beginn seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹ (A 7 ff.). Vernunftkritik ist Erkenntniskritik: um kraft der Erkenntnis kritisieren zu können, muss die Erkenntnis selbst kritisch sein; die kritische Philosophie, das menschliche Erkenntnisvermögen als kritisch auszuweisen, nennt Kant den »Kritizismus«, mit dem er den Empirismus (Hobbes, Locke, Hume) und den Rationalismus (Descartes, Spinoza, Leibniz) zusammenführt. Kants kritische Philosophie umfasst drei Kritiken: ›Kritik der reinen Vernunft‹, ›Kritik der praktischen Vernunft‹ und ›Kritik der Urteilskraft‹; alle drei Kritiken haben auf die Entwicklung der modernen Pädagogik einen entscheidenden Einfluss, sind mithin die Grundlage moderner Erziehungstheorie und -praxis wie Bildungstheorie und -praxis. Mit Humboldt, Hegel, Schelling erreicht dies in der idealistischen Philosophie seinen Höhepunkt – vor allem in Hinblick auf Bildung als (kritischer) Prozess der Selbst- und Weltaneignung. Die materialistische Wende vollziehen Feuerbach, Hess und schließlich, konsequent, Marx und Engels; aus dem Kritizismus wird die »rücksichtslose Kritik alles Bestehenden«, die Vernunftkritik wird als Kritik der politischen Ökonomie auf den Boden der Tatsachen gestellt. Für eine Kritik der pädagogischen Vernunft bedeutet das: »Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss.« (Marx, 1845)

Marx formuliert damit das Programm einer (pädagogischen) Aufklärung als Selbstaufklärung, schließlich einer Selbstaufklärung als Selbstermächtigung, »Emanzipation«: Aus dem Erkenntnisvermögen wird Handlungsfähigkeit (nämlich Fähigkeit, über seine eigene Geschichte zu verfügen), aus der Erkenntniskritik wird Gesellschaftskritik.

Ähnlich radikal hat Freud mit seiner Psychoanalyse die Erkenntniskritik erweitert: als Kritik des Unbewussten.

In der Pädagogik sind dem nur wenige gefolgt, die überdies heute weitgehend marginalisiert und vergessen sind: Wir finden sie in den 1920er Jahren (Bernfeld, Rühle, Muchow etc.) und in den 1970er Jahren (bzw. schon in den späten 1960ern: Heydorn, Mollenhauer, Gamm, schließlich auch Freire). Was im Sinne einer Kritik der pädagogischen Vernunft verstanden werden könnte, sind heute in der akademisch etablierten Erziehungswissenschaft nur noch Randnotiz und Fußnote; auch wenn man sich allenthalben kritisch und selbstverständlich selbstkritisch gibt: Gerade in der Erziehungswissenschaft kommt eine Kritik kaum über bloßes Namedropping hinaus (so wie dieser Kommentartext hier!).

Wir wollen in diesem Seminar versuchen zu rekonstruieren, warum das so ist (freilich mit der kritischen Prüfung, ob das überhaupt so ist!). Diese Rekonstruktion dient zur systematischen wie historischen Einführung in die Grundlagen der Erziehungswissenschaft (insbesondere Bildungs- und Erziehungstheorie sowie philosophische Grundlagen).

»Der kritische Weg ist allein noch offen«, schreibt Kant zum Beschluss seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹ (B 884). Für eine aktuelle Kritik der pädagogischen Vernunft stellt sich die Frage: Ist immer noch allein der kritische Weg offen? Wenn ja: Wie geht man ihn, wer geht – und welche Stolpersteine gibt es? Wenn nein: Welche Wege sind ansonsten offen? Brauchen wir überhaupt noch offene Wege?

Link zum Seminar [intern].


WT 2022

Lehrveranstaltungen Prof. Dr. Sanders, Dr. Behrens, Jung | Wintertrimester 2022


WT 2022: Theorien der Erziehungswissenschaft (Vorlesung)
Dr. Roger Behrens

Die folgenden Fragen sollten Sie sich im Verlauf Ihres Studiums immer mal wieder stellen (und ggf. protokollieren, ob und wie sich Ihre Antworten auf diese Fragen ändern. – Machen Sie das in einem Lerntagebuch.)

• Was erwarten Sie vom Studium der Erziehungswissenschaft?

• Was wollen Sie vom bzw. mit dem Studium der Erziehungswissenschaft?

• Was erwarten Sie von der Erziehungswissenschaft als Fach?

• Was erwarten Sie von Theorien der Erziehungswissenschaft?

• Inwieweit sind Sie bereit, grundsätzliche Fragen bzw. Fragen grundsätzlich zu stellen – und zu reflektieren?


FT 2022

Lehrveranstaltungen Prof. Dr. Sanders, Dr. Behrens, Jung | Frühjahrstrimester 2022


FT 2022: Wie wir leben wollen (Pop und Bildung)
Dr. Roger Behrens

Mit der emanzipatorischen, radikalen Idee des Humanismus war einmal die konkrete Utopie verbunden, dass es anders, besser sein könnte; die Vision, dass eine menschliche Gesellschaft möglich ist, hat bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein Kultur und Bildung bestimmt, war im Fahrplan der Dialektik der Aufklärung noch vorgesehen. Die brutale Wirklichkeit von Krieg, Vernichtung und Terror hat diese Utopie blamiert. Gleichwohl hat gerade die Erziehungswissenschaft nach 1945 an dieser humanistischen Orientierung auf Zukunft festgehalten, nicht zuletzt durch theoretische wie praktische Versuche, den Bildungsbegriff dafür zu aktualisieren; dies gelang nur zu dem Preis des Rückschritts, die radikale Utopie auf den Realismus des liberalen Sachzwangs zu reduzieren. In der als Kultur bezeichneten Sphäre hat das seine Parallele in der Umwandlung von sozialer Phantasie der Zukunft in Sciencefiction – eines der Vorzeichen, unter dem sich das »Kulturelle« mehr und mehr zu dem verschob, was heute als »Pop« etikettiert wird. Teils kitschig, meistens (sozial-) technologisch überhöht erlebt im und als Pop auch die humanistische Utopie ihre Renaissance, wenn auch nur als unterhaltsames Spektakel. Mit dem 21. Jahrhundert zeichnet sich wiederum ein Bruch ab: Zukunft ist längst nicht mehr die humanistische Utopie einer anderen Gesellschaft, sondern bestenfalls die Wiederherstellung eines idealisierten Status Quo. Was bleibt, ist eine »schöne Kunst des Untergangs«, die Otto Karl Werckmeister schon für die 1980er bündig als ›Zitadellenkultur‹ beschrieben hatte: in ihr hat sich mittlerweile auch der bildungsphilosophische Diskurs eingerichtet. Vom Humanismus sind nur noch Varianten des so genannten Posthumanismus übrig. Was das bedeutet, soll in rekonstruktiven Exkursen zum Verhältnis von Pop und Bildung untersucht werden: Wie wir leben wollen ist dann Leitfrage für den Entwurf einer Pädagogik der Zukunft bzw. Zukunft der Pädagogik …

Link zum Seminar [intern].


FT 2022: Kinder – Spielen – Bildung
Dr. Roger Behrens

Während Kinder und Kindheit (in klarer Abgrenzung zu dann vermeintlich nicht mehr kindlichen Erwachsenen) in neuzeitlichen Konzepten der Erziehung bzw. überhaupt in der neuzeitlichen Pädagogik explizit im Zentrum und Fokus stehen, ist ihre Position und Situation in der Bildungstheorie und -praxis sowohl historisch als auch systematisch ambivalent geblieben, nicht zuletzt, weil der ohnehin auf ein Container- bzw. Schlagwort reduzierte Bildungsbegriff (schul-) pädagogisch verflacht ist (Bildung in der Kita), oder abgelöst wird durch sachlich präzisere Konzepte der Sozialisation und Entwicklung. Überdies bleibt die idealistisch überhöhte Bildungsidee trotz ihrer geist- und sprachfetischistischen Begründungsversuche mit der »Arbeit« und ihren (materiellen) politisch-ökonomischen Formen verkoppelt; »Spielen« hingegen bleibt eine Domäne der – wie schon bei Schiller: ästhetischen – Erziehung.

In diesem Seminar wollen wir versuchen, das Verhältnis (oder die Verhältnisse?) von Kind, Spiel und Bildung kritisch zu analysieren; neben der immer wieder zu stellenden Frage, was Bildung ist oder sein könnte, geht es dabei auch um einerseits eine (kritische) Theorie der Kindheit, andererseits um eine Kritik des Spielens, die zum Beispiel mit einer Hermeneutik des Spielzeugs verknüpft werden könnte. Damit sollen auch erziehungswissenschaftliche Methoden und ihre Probleme diskutiert werden: Aktionsforschung, szenisches Verstehen, Grounded Theory, dokumentarische Methode, heuristische Sozialforschung etc.

Das zweite, mit den Topoi »Kinder« (beziehungsweise Kindheit) und »Bildung« sich vielfältig überlagernde Themenfeld ist: Spielen – und Spielzeug.
Diskutiert werden sollen die Fragen:
a) Wie erklärt sich (pädagogisch) historisch wie systematisch »Spielen« als für Kinder »typische« Handlungsform?
b) Wie stehen Spielen und Arbeiten in Beziehung zueinander, zumal unter Berücksichtigung der modernen (industrialisierten) Arbeitsformen (Lohnarbeit, »entfremdete Arbeit«, Taylorismus versus Homo ludens, »Hälftung« des Lebens: Arbeitszeit versus Freizeit etc.)?
c) Inwiefern verändern sich mit der (auch pädagogischen) Ausdifferenzierung von »Spielen« und »Arbeiten« in der Neuzeit Spiele und Spielzeuge?
d) Was bedeuten Mechanisierung (Ausdifferenzierung des Handwerks mit der Manufaktur), Industrialisierung und Computerisierung für die Spielzeugentwicklung?
e) Wie und warum verändern sich Spielzeug-Welten thematisch und strukturell (formal und inhaltlich); was kommt in Spielzeug-Welten vor, was nicht; welche Spielzeuge »verschwinden« wieder?
f) Inwiefern werden Spielzeuge von Erwachsenen adaptiert (abgesehen davon, dass Erwachsene Spielzeuge für Kinder produzieren)?
g) Wie verändert sich eine »Spiele-Kultur« (gefragt ist damit: was unterscheidet eigentlich ein Brettspiel vom Computerspiel; und bevor es um »Computerspiele« geht: was sind die Voraussetzungen für »Computerspiele«, was macht »Computerspiele« für Kinder interessant?)*
Das Themenfeld Spielen und Spielzeug betrifft also auch das, was man »Kinderkultur« genannt hat. Exkurse zu dem, was Martha Muchow als ›Lebensraum des Großstadtkindes‹ untersucht hat, sind ebenso möglich wie eine Auseinandersetzung mit zum Beispiel Donald W. Winnicotts ›Vom Spiel zur Kreativität‹.

* Vermieden werden soll eine rein affirmative, (pädagogisch) unreflektierte, sei’s banalpositivistische, sei’s pseudokonkret-ontologisierende Beschäftigung mit »Computerspielen«.

Link zum Seminar [intern].

HSU

Letzte Änderung: 4. Mai 2022